Jeder von uns ist sich wohl darüber bewusst, dass wir alle über einen freien Willen verfügen. Andererseits lehren uns alte Schriften, dass der göttliche Wille über allem steht. Wie geht das zusammen? Und wie frei ist unser freier Wille eigentlich?
Vor ein paar Tagen hatte ich ein angeregtes Gespräch mit einer lieben Freundin über den freien Willen, der uns gegenüber den Tieren auszeichnet. Wir reflektierten über verschiedene Erlebnisse, die wir hatten, und die uns in mehr oder weniger große Schwierigkeiten gebracht hatten. Unser Fazit war, dass wir offensichtlich in jedem Fall einen erheblichen Anteil daran hatten, dass unsere Vorhaben nicht unbedingt von Erfolg gekrönt waren.
Wenn wir ganz ehrlich waren, hatte eine innere Stimme meist leise - später immer lauter gewarnt, unsere Pläne nochmal zu überdenken. Eine gut gemeinte Warnung, die wir geflissentlich ignoriert hatten, wussten wir doch besser, wo es lang geht.
Alte Schriften und Traditionen lehren uns, dass wir Menschen mit einem freien Willen ausgestattet sind, der es uns ermöglicht, bewusste Veränderungen in unserem Leben herbeizuführen und uns bewusst für oder gegen etwas zu entscheiden. Das unterscheidet uns von dem Bewusstsein der Tiere, die zumeist ihren Instinkten folgen und auf äußere Reize reagieren bzw. sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen.
Zurück zu unserem Gespräch: Wir haben uns die Frage gestellt, warum wir über einen freien Willen verfügen, wenn letzten Endes doch alles dem göttlichen Willen untergeordnet ist, wenn wir eine Entscheidung treffen und dann erleben, dass die Entscheidung wohl doch nicht so optimal war und Gott etwas anderes mit uns im Sinn hatte.
Ist unser freier Wille also gleichgesetzt mit dem Willen Gottes? Was ist daran frei?
Wenn wir uns aus unserer menschlichen Perspektive diese Frage stellen, wird die Antwort schwierig. Unser menschliches Ego denkt in Kategorien und kann über seinen Horizont nicht darüber hinaus blicken. Seine Erkenntnisse beruhen auf Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Vergangenheit. Es denkt quasi in 2D - vertikal und horizontal. Es schließt von der Vergangenheit auf die Zukunft und von dem, was wir bei anderen beobachten, auf uns.
Da kommt bei dem Gedanken, dass unser freier Wille dem Willen Gottes untergeordnet ist, eine trotzige Reaktion. Das Ego stampft wütend mit dem Fuß auf und schreit "ich will aber selbst entscheiden".
Und hier kommen wir der Antwort auf die Frage schon näher. Unser freier Wille ermöglicht uns, jede Entscheidung zu treffen, die wir möchten, zu tun und zu lassen, wonach uns ist. Da das Ego jedoch die Folgen seines Handelns nur begrenzt überblicken kann, braucht es eine übergeordnete Instanz, die verhindert, dass wir überall Chaos anrichten und uns oder andere immer wieder in Schwierigkeiten bringen.
Diese übergeordnete Instanz wird in der Psychologie das Über-Ich, in anderen Kontexten das Höhere Selbst, das göttliche Bewusstsein oder Gott genannt.
So wie Eltern ein kleines Kind zwar seine Erfahrungen machen lassen, ihm jedoch auch Grenzen setzen, damit es sich nicht in Gefahr bringt und seine Lernerfahrungen Schritt für Schritt macht, so wie es seinem Können, seinem Bewusstsein und seinem Verständnis entspricht, so lenkt uns auch diese übergeordnete Instanz - das Höhere Selbst, Gott - und lässt uns unsere Lektionen lernen, damit wir daran wachsen können.
Wir setzen eine Ursache und erfahren eine Wirkung. Wir treffen eine Entscheidung und erfahren die Konsequenzen. Oftmals ist uns nicht bewusst, dass wir einen erheblichen Anteil daran haben, was in unserem Leben geschieht.
Ein kleines Kind hat bisweilen auch wenig Einsicht, warum es das, was es unbedingt möchte, nicht tun darf oder warum es nicht funktioniert.
So wie ein Kind reift und dazulernt, so lernen auch wir langsam dazu und reifen in unserem Bewusstsein.
Auch wenn der Körper irgendwann ausgewachsen ist, in unserem Inneren können ein Leben lang Anteile in einem kindlichen Bewusstsein verbleiben, ein Teil von uns ist vielleicht in der Trotzphase steckengeblieben oder in der pubertären Rebellion.
Da wir Menschen jedoch diese innere Instanz haben, die uns dazu anleitet, über uns hinauszuwachsen und immer bewusster zu werden, wer wir sind, warum wir hier sind und "was die Welt im Innersten zusammenhält" (Goethe, Faust), beginnen wir zu hinterfragen.
Meist hinterfragen wir dann, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es wollten, oder wenn wir auf große Hindernisse treffen.
Rückblickend können wir oft sogar feststellen, dass alles einen Sinn hatte und dass es sogar gut war, dass die Dinge nicht so gekommen sind, wie wir das unbedingt wollten.
Das Bild, das wir in unserem Gespräch gefunden haben, nämlich dass wir sozusagen an Gottes langer Leine durchs Leben gehen, dass Gott mit uns Gassi geht, hat uns herzlich lachen lassen.
Gott lässt uns auf unserem Weg alles untersuchen, kennenlernen, erfahren. Er hat uns jedoch fest an seiner Hand, so dass wir in keine ernsthafte Gefahr kommen - es sei denn, wir reißen uns bewusst von ihm und seiner Hand los. Doch auch dann ist es unser freier Wille, für den wir die Verantwortung haben und wofür wir die Konsequenzen tragen.
So sehr ich auch an dieser Leine zerre, weil ich unbedingt zu dem verlockenden Baum dort drüben hinlaufen möchte, Gott hält uns fest und ist nachsichtig mit unserem Sturkopf.
Es ist beruhigend, an Gottes langer Leine durchs Leben zu gehen und dann dankbar zu erkennen, dass es so ist, wie in dem Zitat, das ich vor langer Zeit einmal gelesen habe:
"Ich danke Gott im Herzen still, dass die Dinge nicht so gehen, wie ich es will."
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Hertha (Donnerstag, 30 Juni 2022 10:33)
Wunderschön und so tröstlich!!!