...denn sie ist der Weg, den Gott mit Dir gegangen ist. - Dieses wunderbare Zitat von Leo Tolstoi fiel mir vor gut eineinhalb Jahren in die Hände, als ich auf der Suche nach einem Thema für die Gebetsgruppe war, die ich zusammen mit einem Kollegen bei meiner letzten Arbeitsstelle leitete. Das Zitat hängt bis heute an meinem Kühlschrank, damit ich mich jeden Tag daran erinnere und dankbar bin für jedes Kapitel.
Just in der Zeit, als mir das Zitat begegnete, war ich - wieder einmal - ziemlich weit davon entfernt, meine Geschichte zu lieben. Irgendwie war mir gerade alles zuviel. Ich haderte mit mir, meinen Kindern, meinem Alltag. Und je mehr ich haderte, desto mehr Gründe fand ich zum Hadern.
Vor Kurzem fiel mein Blick ganz bewusst auf dieses Zitat, und ich stellte fest, dass ich mich derzeit in einer ähnlichen Situation wiederfand, wie damals. Ich war alles andere als dankbar für das aktuelle Kapitel... und wieder haderte ich mit meinem Leben.
Unmerklich schlich sich eine graue Nebelwolke aus Sorgen, Erschöpfung, Problemen und Zweifeln in mein Leben. Sehr subtil machte sich dieser Nebel erst in meinen Gedanken, dann in meinen Emotionen und schließlich in meinem ganzen Umfeld breit. Er machte meinen Blick trüber und ließ immer weniger Licht in mein Leben, bis ich schließlich, getrieben von der Hektik des Alltags, nur noch das wahrnahm, was nicht gut lief, was mühsam war und was möglicherweise nicht gut laufen könnte und mühsam werden würde... Meine Güte!
Ich hetzte durch die Wochen, erfüllte meine Pflichten und fiel abends erschöpft ins Bett, bis mir eines Morgens beim Blick aus dem Fenster auffiel, dass ja die Sonne draußen schien. Ziemlich überrascht nahm ich den blauen Himmel, das rot-gelb-grün-braune Laub der Bäume und ein goldenes Licht über den Nebelschwaden, die sich zu Boden senkten, wahr. Es war eine zauberhafte Herbststimmung, und ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, wie das Wetter am Vortag war. Der Nebel begann sich nun auch in mir zu lichten und mir wurde bewusst, dass in der ganzen Zeit auch Gottes Licht zunehmend in mir verblasst war.
Ich betete und dankte Gott, dass er mich in mehrfacher Hinsicht aufgeweckt hatte an jenem Morgen. Wieder einmal hatte ich zugelassen, dass Termine, Verpflichtungen, Erwartungen und Sorgen die Oberhand gewonnen hatten und ich glaubte, dass ich allein für alle Fragen und Unklarheiten Antworten und Lösungen finden musste. Ganz allein gegen den Rest der Welt.
Mein Hadern hat Gründe. Ich finde immer Gründe dafür, warum ich mich im Nachteil, ungerecht behandelt oder einer Vielzahl von unüberwindlichen Hindernissen gegenüber sehe. Ich weiß auch, wer alles die Steine in den Weg legt oder wer wann was getan hat, das mich in Schwierigkeiten gebracht hat. Und dann soll ich meine Geschichte lieben... All die Last? Die Schwierigkeiten? Den Schmerz? Ich habe mir ein anderes Leben gewünscht, ich wollte doch so viel erreichen. Ich wollte doch woanders leben. Ich wollte doch nie alleinerziehend sein. Ich wollte doch... Moment. ICH wollte - Herr, MEIN Wille geschehe, nicht der Deine... Finde den Fehler!
Ich fühle Demut ob meines Haderns. Ganz beschämt senke ich meinen Kopf und bitte Gott um Vergebung. Vater, DEIN Wille geschehe, nicht der meine. Danke, dass Du mich daran erinnert hast. Wenn der Lebensweg immer steiniger wird und sich endlos Hindernisse aufbauen, kann es daran liegen, dass ich am Steuer sitze und in eine Richtung fahre, die vielleicht nicht die beste für mich ist. Vielleicht willst Du mich bewusst aufhalten, warnen, damit ich mich nicht in Untiefen manövriere oder Stromschnellen meinem Lebensboot gefährlich werden könnten.
Mir fallen spontan einige Personen aus der Bibel ein. Hiob... ob er seine Geschichte immer geliebt hat? Am Anfang sicher schon. Ihm ging es gut. Er hatte alles, war erfolgreich, war angesehen, beliebt, gesund. Aber als ihm alles genommen wurde. Als er plötzlich dastand arm, ohne Familie, ausgestoßen als Aussätziger - hat er wirklich in jedem Augenblick seine Geschichte geliebt? Auch er hat gehadert, hat seine Freunde um Rat gefragt, war am Ende seiner Kräfte. Er hat tief in seinem Herzen weiterhin Gott vertraut, auch wenn er Gottes Handeln nicht verstanden hat. Im Nachhinein, als er von Gott zum Dank für seine Treue ein neues Leben erhalten hatte, eine neue Familie, eine Verdopplung seines Vermögens, neue Freunde, Gesundheit, fiel es ihm sicherlich leichter, seine Geschichte zu lieben. Aber mitten in seinem Elend, da bin ich mir ganz sicher, war er ebenso Mensch wie wir alle, und bestimmt not amused darüber, in welcher Lage er sich völlig unverschuldet befand.
Wie ist es mir Maria, der Mutter Jesu? Auch sie war sicherlich sehr glücklich, dankbar, stolz darauf, dass sie von Gott auserwählt war, die Mutter seines Sohnes zu sein. Stolz wie jede Mutter, die erlebt, dass in ihrem Körper ein neuer Mensch heranwächst. Stolz, die Entwicklung dieses Kindes begleiten zu dürfen. Maria war sicherlich eine sehr glückliche und stolze Mutter - und ganz besonders, da Jesus Gottes Sohn war. Ganz so glücklich schien sie nicht zu sein, als ihr halbwüchsiger Sohn plötzlich verschwunden war und im Tempel den Schriftgelehrten von seinem Vater erzählte. Als er nicht mehr mit nach Hause gehen wollte, weil er ja von Gott den Auftrag erhalten hatte zu lehren. Gut, in dem Alter haben auch die Kinder anderer Mütter bisweilen Flausen im Kopf, und Mütter hadern wohl nicht nur einmal mit ihrer Mutterschaft. Aber spätestens als Maria miterleben musste, wie ihr Sohn ausgepeitscht, verhöhnt und zum Tode verurteilt wurde, war es für sie als Mensch, Frau und Mutter alles andere als selbstverständlich, ihre Geschichte zu lieben. Sie weinte, sie klagte, sie litt.
Nach Jesu Auferstehung und seiner Himmelfahrt fiel es ihr vermutlich wieder leichter, ihr Schicksal zu lieben.
Ob es die Propheten des Alten Testaments sind, die oft viel erleiden mussten als Männer Gottes; ob wir an Paulus denken, der zwar für seinen Missionsdienst und die Gründung von Gemeinden brannte, dafür aber Gefängnis, Leid und Schmerzen aushalten musste; oder ob wir an Sarah, die Frau Abrahams denken, die wegen ihrer Kinderlosigkeit litt. Beispiele gibt es noch unzählige mehr. Jeder von ihnen erlebte Schicksalsschläge, Prüfungen, Herausforderungen, Leid. Jeder von ihnen war Mensch und hat gehadert, gezweifelt und gekämpft. Rückblickend war meist der Sinn des Leidens verständlich. Gott hat seine Kinder in den Zeiten geführt, er hat sie geprüft, geschliffen und stärker werden lassen. Er hat Gutes aus dem Leid und den Schwierigkeiten entstehen lassen. So ist Gott, wenn wir den Weg mit ihm gehen.
Er liebt uns so sehr, dass er uns unseren freien Willen lässt. Er lässt uns experimentieren, unsere durch ihn verliehene Schöpferkraft ausprobieren. Er lässt uns laufen, eigene Erfahrungen sammeln. Aber so wie Eltern ihr Kind nicht aus den Augen lassen und sofort zur Stelle sind, wenn es stürzt oder sich in Gefahr begibt, so ist auch Gott zu uns.
Er führt uns an unsere Grenzen, er fordert uns heraus. Er will, dass wir wachsen, dass wir innerlich größer, stärker, reifer werden. Er will die Schätze in uns an die Oberfläche bringen, den strahlenden Regenbogen unserer Seele durch jede Zelle scheinen lassen. Gott liebt uns so sehr, dass er jeden Weg mit uns geht, den wir einschlagen, auch wenn wir diesen Weg eigensinnig wählen, ohne Gott bewusst mitzunehmen. Er führt uns aus den Sackgassen, wenn wir ihn bitten, uns den Ausweg zu zeigen. Er begleitet uns durch die Täler und räumt die größten Steine aus dem Weg.
Er heilt unsere Wunden, lindert den Schmerz und tröstet in Zeiten größter Verzweiflung - wenn wir ihn ganz nah kommen lassen, wenn wir erlauben, dass er uns berührt, wenn wir uns ihm öffnen und ihn in unser Herz hinein lassen.
Rückblickend verstehe ich schon so manches Kapitel meiner Geschichte. Es ist ein Zusammenhang, ein roter Faden erkennbar. Aus der Perspektive ist es spannend, jeden Tag eine neue Seite aufzuschlagen und meine Geschichte im Wissen um den roten Faden weiterzuschreiben. Ich bin Autor und Protagonist, mal gleichzeitig, mal wechselnd. Manchmal finde ich mich in der Nebenrolle, ein andermal erlebe ich mich als Schlüsselfigur.
Ich weiß, dass ich wieder Nebelschwaden in meinem Geist finden werde, dass ich wieder im Dunklen herumirre, weil ich vergessen habe, dass ich das Licht immer in mir trage.
Aber ich weiß auch, dass ich dazulerne und Gott mir immer wieder einen Lichtschalter zeigt, so wie an jenem Herbstmorgen das goldene Sonnenlicht.
Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich stolz auf den Weg, den Gott mit mir bisher gegangen ist. Egal in was für eine verzwickte Lage ich mich gebracht hatte, er hat mich geduldig bei der Hand genommen und wieder herausgeführt. Ja, diese Geschichte liebe ich, denn sie ist eine Co-Produktion von Gott und mir.
Und was ist Deine Geschichte?
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